Du bist aber böse, du bewertest ja!

 

Im Reich der Persönlichkeitsentwicklung gibt es einen mittlerweile recht verbreiteten Ratschlag, der da wäre „bewerte nicht“!

 

Häh? Wie soll das denn gehen???

 

Hast du dir das schon mal überlegt, wie man NICHT bewertet?

 

Seltsam, gerade in den sozialen Medien will jeder von uns positive Bewertungen. Ich habe noch niemanden erlebt, der gesagt hätte „Nein, tu’s nicht, gib mir kein Like und auf gar keinen Fall ein Herzchen!“

Du merkst schon den Hauch von Ironie…

 

Es ist doch vielmehr so, dass niemand eine negative Bewertung bekommen will. Ist ja auch klar, weil eine negative Bewertung ein Gefühl der Ablehnung hervorruft und ein schlechtes Licht auf die Person, ihr Produkt oder ihre Leistung wirft.

 

Die Onlinewelt kommt aber doch ohne Bewertung kaum aus. Oder bist du nicht auch froh, wenn du vor Kauf eines Produktes auf Amazon gehen und dir die Rezensionen durchlesen kannst? Gehst du nicht auf ein Vergleichsportal, bevor du deinen Stromlieferanten wählst oder deine Autoversicherung abschließt? OK, inwiefern diese Bewertungen immer ganz astrein, unabhängig und objektiv sind, sei mal dahingestellt. Aber ich glaube, mich persönlich haben sie schon einige Male vor Fehlkäufen oder überteuerten Produkten bewahrt.

 

Nochmal zurück zu positiven Bewertungen: Jedes Lob ist eine Bewertung. Und wen beflügelt es nicht, wenn er ein Lob bekommt? So mancher ist geradezu ausgehungert und wartet sehnlichst darauf, dass ihn endlich jemand bewertet und mal sagt, dass er seine Sache gut gemacht hat. An dieser Stelle wäre eine Bewertung also dringend notwendig!
Interessant dabei ist auch, dass mit Lob viel mehr rumgegeizt wird als mit Bemängelungen.

 

Im Gedankengang, wann in der menschlichen Entwicklung das Thema Bewertung ansetzt, bin ich natürlich sofort auf die Schule gekommen – das Bewertungsmonster schlechthin!

Aber die Bewerterei geht viel früher los, genau genommen schon im Mutterleib. Bei regelmäßigen Ultraschalluntersuchungen wird bewertet, ob die Entwicklung des Embryos normal verläuft; normal im Sinne von altersentsprechend und was gesundheitlich gesehen als normal gilt. Schön veranschaulicht wird diese Bewertung in einer grafischen Auswertung, einer Entwicklungskurve, wo man sofort sieht, wie Ist und Soll übereinstimmen oder auseinanderdriften. Und so nimmt das Leben Fahrt auf und rast von einem Bewertungsschema ins nächste.

 

Viele dieser Systeme sind äußerst hilfreich, wenn sie beispielsweise unsere Gesundheit betreffen und wir frühzeitig darauf aufmerksam werden, wenn unser Körper vom Gesundsein abweicht.

 

In unserer Erziehung sind wir quasi darauf angewiesen, dass uns unsere Eltern beibringen, was gut ist und was nicht. Andernfalls wären wir vollkommen haltlos und würden uns in der Welt kaum zurechtfinden.

 

Das Bewerten ist für uns eine Überlebensstrategie, um zu wissen, wo wir stehen. Auch wenn wir behaupten, wir bewerten nicht, tun wir es in uns trotzdem. Wir brauchen das, um uns selbst einordnen und orientieren zu können. Wir wollen festlegen, was für uns richtig und was falsch ist.

 

Selbst unsere Werte sind zu bewerten. Ganz nebenbei steckt ja das Wort „Wert“ auch in Be-Wert-En drin! Ja, auch unsere Werte wollen untersucht werden, in welcher Relation sie zueinander stehen und welchen Platz sie in der persönlichen Wertehierarchie einnehmen. Eine Bewertung ist damit eine wichtige Prämisse, um sich seiner eigenen Werte klar zu werden.

 

Bewerten steht auch in enger Verbindung mit WOLLEN. Wenn du Rosenkohl siehst dann bewertest du sofort, ob du ihn gerne essen willst oder nicht.

 

Der erste Eindruck zählt – jeder von uns kennt das! Bewertung? Logisch! Abstellbar? Kann ich mir nicht so ganz vorstellen…

 

Pro Sekunde prasseln 11 Millionen Sinneseindrücke auf uns ein. Wir nehmen sie zwar alle auf, doch nur 60 davon werden in unserer Großhirnrinde verarbeitet. Unser System bewertet, welche in unser Bewusstsein eindringen dürfen und welche nicht. Ohne diesen Filter, dieses Bewertungssystem, würden wir vermutlich wahnsinnig werden, komplett orientierungslos und überfordert von dieser Informationsflut.

 

Bewerten ist deshalb auch eine Form der Selbstfürsorge, um uns und unsere Gesundheit zu schützen. Für mich ist es ehrlich gesagt unverständlich, warum immer wieder dazu aufgefordert wird, NICHT zu bewerten. Ok, ich gebe zu, ich habe es auch schon öfter gesagt, aber im Sinne von „ich kann mehrere Meinungen nebeneinander stehen lassen“, ohne den anderen zu verurteilen.

 

Und genau darin liegt der Hund allerhöchstwahrscheinlich begraben: Nämlich, dass „bewerten“ mit dem Wort „verurteilen“ gleichgesetzt wird. Und „verurteilen“ hat bei mir nichts mehr mit Wert zu tun, sondern durch ein Urteil wird jemand für schuldig erklärt und es folgt eine Strafe oder etwas milder und alltäglicher ausgedrückt, über eine Person oder Sache wird eine heftige Kritik ausgesprochen und sie wird strikt abgelehnt.

 

Ich finde, wir müssen uns für unseren natürlichen Bewertungszwang weder entschuldigen, noch schämen. Und wir müssen uns auch nicht verkrampfen, dass wir ja nicht bewerten. Die positiven Bewertungen dürfen und sollen wir doch sogar in die Welt rausposaunen!
Was denkst du, wie viele Menschen du mit deinem Lob bestärken und beflügeln kannst! Probiere es mal aus auch schaue, was zu dir zurückkommt. Du wirst positiv überrascht sein!

 

Und wenn dir eine schlechte Bewertung auf der Zunge liegt oder in den Fingern kitzelt, dann verurteile nicht. Und schon gleich gar nicht in aller Öffentlichkeit, sondern zeige Mut und kontaktiere die Person oder die Firma, bring das Thema konstruktiv auf den Tisch und gib deinem Gegenüber damit Raum, etwas zu verbessern oder zumindest Stellung zu nehmen. Bleib fair! Dir selbst und anderen gegenüber!

 

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