Mut, den Umständen nicht das Zepter zu überlassen

 

Mut, den Umständen nicht das Zepter zu überlassen

 

Wie oft muss man einem Kind etwas sagen oder vorleben bis es glaubt, dass es so ist?

Was wäre, wenn du feststellst, dass alles, was du bisher gelernt hast, genau dazu da ist, dich vom Leben abzuhalten? Dass du in einem Kokon gefangen bist, in dem ganz besondere Rahmenbedingungen herrschen. Bedingungen, die für die meisten Menschen hier in Deutschland unvorstellbar sind.

 

 

Du lebst in einer Parallelwelt, abgeschottet von sozialen Kontakten, fernab von Unterhaltung und Bildung. Nicht, weil du das so willst, sondern weil es für dich so gewollt ist. Was du willst, deine Wünsche und Bedürfnisse, flackern nur noch sehr selten in dir auf. Sie verblassen Tag für Tag mehr…

Du bist ein böses Mädchen und hast es nicht verdient, dass dein Hunger vollends gestillt wird und dass du deinen Körper waschen darfst. So oft wurde dir gesagt, dass du des nicht wert bist … die meiste Zeit glaubst du es schon selbst.

Du bist zum Gehorsam gezwungen. Dir wird täglich vor Augen geführt, dass du nichts kannst. Du glaubst es, denn bei Nichtgehorsam folgt Strafe. Keine üblichen Strafen wie Fernsehverbot – Was ist Fernsehen? – nein, und Prügel mit üblen Schwellungen sind noch die, die am ehesten zu verkraften sind…

 

 

Amelie, inzwischen eine erwachsene Frau, war bis zu ihrem 21. Lebensjahr in diesem engen Kokon gefangen. Es gab keinen Handlungsspielraum. Jegliche Hoffnung auf ein normales Leben, das sie bei ihren Mitschülern beobachten konnte, wurde von ihren „Wärtern“ im Keim erstickt.

Und als Amelie schon fast alle Hoffnung aufgegeben hat, begegnet sie ihren Retterinnen…

Ich war alt genug, um in den Kindergarten zu gehen. Im Krankenhaus hatte ich gern mit den anderen Kindern gespielt. Umso verwunderlicher war mein Verhalten, das ich jetzt an den Tag legte. Obwohl der Kindergarten nur fünf Minuten zu Fuß entfernt war, weigerte ich mich, alleine hinzugehen. Meine „Mama“, wie ich sie nannte, brachte mich ein paarmal hin, dann war sie der Meinung, ich könne gut alleine gehen. Damals begann die feine und grausame Manipulation, die fortan mein Leben bestimmte.
„Geh allein in den Kindergarten“ – „Rühr dich bloß nicht vom Fleck!“
Was galt denn nun? Ich fürchtete mich. Alles, was ich tat, konnte falsch sein. Also blieb ich vor der Haustür stehen und wartete. Ich ging nie allein zum Kindergarten, lieber stand ich den gesamten Vormittag vor der Tür des Hochhauses, bis Nachbarn bei meiner „Mama“ klingelten, um ihr zu sagen, dass ihr Kind seit Stunden dort unten steht.
Dann bekam ich eine Tracht Prügel. Weil ich nicht zum Kindergarten gegangen war.
„Du bist behindert, du Hinkebein“, sagte sie dann zu mir, ihr Gesicht dicht vor meinem, die Augen zu bösen Schlitzen zusammengezogen, das Gesicht einer Hexe.
„Die anderen Kinder wollen eh nicht mit einem Krüppel wie dir spielen. Du bist nicht normal. Keiner will mit dir spielen. Wehe du spielst mit den anderen Kindern. Die wollen eh nichts von dir wissen. Wehe ich höre, du spielst mit anderen Kindern, hörst du? Dann kannst du etwas erleben.“
In meinem kleinen Kopf drehte sich alles. Ich bekam Schläge, weil ich nicht in den Kindergarten ging. Und wenn ich hinging und mit den Kindern spielte, bekam ich auch Schläge. Schläge bekam ich, wenn ich im Kindergarten, so wie alle anderen Kinder, etwas aß. Schläge erhielt ich aber auch, wenn ich mich weigerte, etwas zu essen, weil meine „Mama“ es mir so befohlen hatte.
„Ich weiß nicht, was mit meiner Tochter los ist“, hörte ich sie immer wieder zu den Kindergärtnerinnen sagen, die ihr ratlos berichteten, dass ich nicht mit den anderen Kindern spielte. „Das ist doch nicht normal, oder? Ach, und sie will auch nichts essen?“ Dann seufzte sie tief auf und schüttelte den Kopf. Auch die anderen wirkten ratlos. Und zuhause bekam ich wieder Schläge.
„Wehe, du spielst mit den anderen Kindern“, sagte sie. „Wehe, du isst dort irgendetwas. Wehe, du machst mit, wenn die Kindergärtnerinnen etwas mit euch machen. Hörst du? Denn du bist nicht normal, die anderen Kinder ekeln sich vor dir.“
Ich war so durcheinander, dass ich überhaupt nicht mehr wusste, was richtig war und was falsch. Am besten tat ich genau das, was sie gerade wollte. Dann bekam ich manchmal keine Schläge. Doch ihre Liebe bekam ich nie.
Mein Vater arbeitete als Versicherungsvertreter und war viel unterwegs. Wenn er nach Hause kam, sah er mich kaum an. Bald lernte ich, dass das auch besser für mich war. Denn wenn meine „Mama“ ihm von mir berichtete, dann wurde er immer wütend.
„Ich weiß nicht mehr, was ich mit diesem Kind anfangen soll“, jammerte sie. „Amelie macht im Kindergarten nicht mit. Sie will nicht alleine hingehen, dabei sind es doch nur fünf Minuten dorthin. Und wenn ich sie hinbringe, dann erzählen mir hinterher die Erzieherinnen, dass sie nur im Eck steht und zuschaut. Stell dir vor, sie weigert sich mitzumachen. Egal, wie sehr sie sich um sie bemühen, sie spricht kein Wort und will von den anderen Kindern nichts wissen.“
Das hörte ich und wunderte mich. Ich hätte so gerne mit den anderen Kindern gespielt. Doch kaum tat ich es und die Erzieherinnen berichteten meiner „Mama“ freudestrahlend, die Amelie hätte heute doch tatsächlich ganz normal mit den anderen gespielt, dann bekam ich zu Hause Schläge. ‚Sie will doch, dass ich mich raushalte‘, dachte ich verzweifelt, wenn mein Vater mich schalt und mir den Hintern versohlte. ‚Ich hab es doch genauso gemacht, wie sie es wollte.‘
Früh hörte ich auch Sätze wie: „Das hat sie von ihrer Mutter. Sie ist genauso verrückt, wie die war“, und das verwirrte mich noch mehr. War „Mama“ verrückt? Wieso sprach man von ihr wie von einer anderen Person? All das machte mir große Angst.
Ich war fünf Jahre alt, als meine „Mama“ sagte: „Jetzt hab ich endgültig die Schnauze voll davon, dir deine langen Fransen zu waschen und zu föhnen. Wir gehen zum Friseur und lassen dir den Wirrkopf abschneiden.“
Ich brach in Tränen aus, denn ich mochte meine langen braunen Locken. Doch sofort erhielt ich rechts und links Ohrfeigen, sodass ich meine Tränen hinunterschluckte.
„Was soll ich dem Kind denn machen?“, erkundigte sich die Friseurin. „Es hat ja so niedliche Locken!“
„Abschneiden“, befahl meine „Mama“, „so kurz wie möglich.“

Auszug aus „Als hätte der Himmel mich vergessen“ von Amelie Sander

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Jahre später…

 

„Amelie“, ruft meine Stiefmutter mit liebenswürdiger Stimme, „deine Gäste sind da.“
Ich rührte mich selbstverständlich nicht. So gerne würde ich meine Tanten begrüßen. Tränen stehen mir in den Augen, als sie mich wieder und wieder rufen.
„Sie will halt nicht“, höre ich meine Stiefmutter resigniert und um Verständnis heischend sagen, „ihr wisst doch, wie sie ist.“
Und dann gehen alle ins Wohnzimmer, trinken Kaffee und essen von dem leckeren Kuchen, den ich beim Frühstück gesehen habe und von dem ich selbstverständlich nicht bekomme, feiern meinen Geburtstag, jetzt, wo sie schon da sind, und ich sitze oben im Zimmer und weine vor mich hin.
Und dann muss ich aufs Klo. Ich wähne die Luft rein und schleiche mich die Treppe hinunter. Da geht die Tür von der Gästetoilette auf, und heraus kommt meine Tante Fiona. Es ist zu spät für mich, um mich wieder zurückzuziehen, schon hat sie mich gesehen.
„Amelie“, sagt sie hoch erfreut, „wie schön. Hast du es dir anders überlegt? Mama hat schon gesagt, dass du nicht herunterkommen magst.“
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, sicherlich werde ich puterrot. Tante Fiona wartet, bis ich die Treppe ganz heruntergekommen bin, dann reicht sie mir die Hand. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, sagt sie so freundlich zu mir, dass ich ganz verdattert bin.
„Danke“, sage ich zaghaft. Wenn das Ganze nur meine Stiefmutter nicht mitbekommt, denke ich und blicke scheu zu Boden. „Komm doch mit rein, Amelie“, sagt Tante Fiona und macht einen Schritt zum Wohnzimmer. Sie weiß ja nicht, dass ich dieses Zimmer nur zu besonderen Gelegenheiten betreten darf, ja, dass ich gar nicht hier unten sein dürfte.
„Ich muss aufs Klo“, nuschle ich und mache mich davon.
„Also bis gleich“, ruft mir Tante Fiona fröhlich hinterher.
Mein Geschäft erledige ich so schnell wie möglich, dann husche ich wieder in mein Zimmer. Dort setze ich mich brav auf meinen Stuhl. Ich betrachtete meine Hand. Noch immer kann ich den liebevollen Händedruck meiner Tante fühlen. Es ist so lange her, dass mich jemand anders als hart angefasst hat, und mir kommen die Tränen, so berührt bin ich von der Begegnung im Flur.
Es soll die einzige an diesem Geburtstag bleiben. Meine Verwandten gehen, keiner kommt auf die Idee, die Treppe hochzusteigen und mich in meinem Zimmer zu besuchen. Sie lassen ein Geldgeschenk für mich da, weil sie nicht wissen, worüber ich mich freuen würde. Natürlich kassiert meine Stiefmutter das ein.
„Du brauchst bald neue Schuhe“, sagt sie, „du kostest uns eh viel zu viel.“ Damit ist die Sache für sie erledigt.
Nach den Sommerferien komme ich in eine neue Lernbehindertenschule. Ein kleiner Lichtblick dabei ist, dass ich allein hinfahren darf, und die Fahrt mit Bus und Straßenbahn verschafft mir wenigstens ein bisschen Abwechslung. Meine Stiefmutter meint zwar, ich sei auch dafür zu blöde, doch ich habe keine Probleme mit dem Schulweg. Auch hier darf ich im Unterricht nicht mitmachen; die Ausnahme bildet das Fach Religion, „damit ich meine vielen Sünden abbauen kann.“

Auszug aus „Als hätte der Himmel mich vergessen“ von Amelie Sander

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Mit ihrem Buch „Als hätte der Himmel mich vergessen“ möchte Amelie Sander mit ihren Erinnerungen auf das Schicksal von Kindern aufmerksam machen, die im familiären Umfeld misshandelt werden, und spricht sich dafür aus, dass die Verjährungsfristen in diesen Fällen endlich angehoben werden.

 

Amelie ist für mich ein Mut-Vorbild, den gegebenen Umständen nicht das Zepter zu überlassen. Ich kenne Amelie nur über Messenger-Nachrichten. Sie ist mir aufgefallen, weil sie immer mittwochs bei den Marketingaktionen in meiner Wertelounge mitmacht, um ihr Buch bekannt zu machen. Ich habe sie mal angeschrieben und ihr angeboten, in der Wertelounge eine Autorenlesung zu machen. Ihre Antwort war, dass sie selbst das nicht machen könne – nach dem Grund habe ich nicht gefragt. Ihre Bitte an mich war, dass ich die Lesung übernehme. Ich habe sofort zugesagt, weil ich ihr gerne einen Gefallen erweisen wollte … und habe nicht gewusst, worauf ich mich da einlasse. Auf eine tief emotionale Reise in ein Thema, vor dem ich ehrlich gesagt lieber die Augen verschließen würde. Doch das kann ich nicht. Ich verschließe nicht die Augen, wenn Ungerechtigkeit, Demütigung und Misshandlung passieren. Wenn Gerechtigkeit eine Stimme sucht.

 

 

 

Amelies Geschichte kann nicht rückgängig gemacht werden, aber Amelie tut genau das Richtige! Sie geht mit ihrer Geschichte raus und klärt auf! Und dabei will ich sie durch meinen Beitrag unterstützen. Auch du kannst ihr dabei helfen, indem du diesen Beitrag teilst und wenn dir in deiner Umgebung Anzeichen für Verwahrlosung und Kindesmisshandlung auffallen, dann schau nicht weg! Gib dem Kind eine Stimme!

Von ♥ zu ♥

Deine Michaela aus der Wertelounge

 

Als hätte der Himmel mich vergessen: Verwahrlost und misshandelt im eigenen Elternhaus